Pressetext von Marie Kuhn
Pressetext von Marie Kuhn
In ihrer Ausstellung in den Vitrinen des Kunstvereins beschäftigen sich Florian Deeg und Jáno Möckel mit dem Vergessen von Orten, Gegenständen und menschlichen Begegnungen. Dabei hinterfragen sie den doppelten Charakter von Vitrinen, einerseits als museale Präsentationsform für Kunst und andererseits als Werbeformat für Waren des Konsums. In ihrer multimedialen Installation verbinden Deeg und Möckel den Konservierungsprozess von Erinnerung mit der Ästhetik des Verfalls. Dafür eignen sie sich Gegenstände und Orte des Alltags an. Die vertraut wirkenden Objekte und Räume werden durch Verfremdung des Materials oder ungewohnte Perspektiven surreal inszeniert. Hinter den Glasscheiben der Vitrinen wirken sie dem Alltagsleben seltsam entrückt.
Florian Deeg beschäftigt sich in seiner Arbeit mit den Möglichkeiten und Übergängen analoger und digitaler Modelle. In einer Rauminstallation deren Ästhetik sich zwischen Schaufenster, Büroraum und privatem Interieur bewegt, zeigt Deeg die von ihm entwickelte Webseite "leute-in-deutschland.de". Diese wird auf einem alten, nikotinvergilbten Computer mit deutlichen Gebrauchsspuren aufgerufen. Auf der Seite erscheinen einmalig alle Namen, die im deutschen Telefonbuch im Herbst 2016 verzeichnet sind. Das zufällige Erscheinen von Menschen, hier ausschließlich vertreten durch ihre Namen, stellt eine Analogie zum Geschehen im Bahnhof her. Das Zusammentreffen von Personen und ihr gleichzeitiger „Auftritt“ sind sowohl auf dem Bildschirm als auch real vor Ort beliebig. In einer weiteren Vitrine zeigt Deeg die Arbeit "Was die Ohren sehen". Auf zwei Screens werden synchron laufende Videos gezeigt, die sich der unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs und alltäglicher Wege außerhalb des gewöhnlichen Sichtfelds widmen. Mithilfe einer selbstgebauten Kamerakonstruktion erzeugt Deeg Aufnahmen, die den Orientierungssinn der Betrachter:innen herausfordern.
Jáno Möckel reflektiert in seinen Arbeiten die Unzulänglichkeiten des alltäglichen Lebens in einem sozio-ökonomischen Kontext. In den Vitrinen zeigt er die Arbeit "Pawnbroker's", in der er das Schaufenster eines Pfandleihhauses inszeniert. Die in Pfandgeschäften beworbenen Objekte sind keine Neuwaren, sondern wertvolle Gebrauchsgegenstände. Die Auslage im Schaufenster erfolgt erst dann, wenn ein Darlehen nicht zurückgezahlt werden kann und der beliehene Gegenstand bei der darauffolgenden Auktion nicht versteigert wird. Hinter den Verkaufswaren verbergen sich persönliche Geschichten und menschliche Notlagen. Die Frage nach Wertproduktion bzw. Wertverlust von Waren sind wiederkehrende Themen in Möckels Arbeiten. In der Ausstellung begegnet er der eigenartigen Ästhetik von Leihhaus-Schaufenstern zwischen Juwelier und Second-Hand Shop mit einem Diorama aus grau beflockten Objekten. Üblicherweise wird Beflockung zur Veredelung von Oberflächen eingesetzt und findet Verwendung bei Schmuckschatullen zur Präsentation und Aufbewahrung. Aus der Ferne wirkt das Diorama jedoch auf künstliche Weise verstaubt. Die verfremdeten Waren zeugen sowohl von Vernachlässigung und Wertverlust als auch von Veredelung und Wertproduktion.
Ein Holzvorbau wird häufig dann an ein Schaufenster montiert, wenn ein Ladengeschäft mit beschädigten Glasfenstern vor Diebstahl geschützt werden soll oder aber um einen Sichtschutz bei Umbauarbeiten zu bieten. In Möckels Installation "Munthofstraat" wird der Blick ins Innere hingegen durch ein Guckloch ermöglicht. Sowohl die Installation als auch die Videoarbeit thematisieren die Präsentation und Irritation von Werbeinhalten.
In den Vitrinen treten die Arbeiten von Deeg und Möckel in einen Dialog. Die jeweils verwendeten künstlerischen Materialien und architektonischen Elemente des Anderen werden aufgegriffen, gespiegelt und in neue Zusammenhänge gebracht. Die konkrete Auseinandersetzung mit den Thematiken von Verfall und Nostalgie erfährt in der Pandemie eine Aktualisierung. Dies wird augenfällig beim Blick in die verwaisten Vitrinen.
Exhibiting in the showcases of the Kunstverein, Florian Deeg and Jáno Möckel deal with the forgetting of places, objects and human encounters. In doing so, they question the dual character of showcases, on the one hand as a form of museal presentation for art and on the other hand as an advertising format for consumer goods. In their multimedia installation, Deeg and Möckel combine the process of preserving memories with the aesthetics of decay. For this purpose, they appropriate objects and sceneries from everyday life. The recognizable objects and spaces are staged surreally by alienating the material or through unusual perspectives. Behind the glass panes of the showcases, they seem strangely removed from day-to-day life.
In his work, Florian Deeg deals with the possibilities and transitions of analog and digital models. In a spatial installation whose aesthetics move between shop window, office space and private interior, Deeg shows the website "leute-in-deutschland.de" he developed. It's called up on an old, nicotine-yellowed computer with clear signs of use. All the names listed in the German telephone directory in the fall of 2016 appear once for one single time on the page. The random appearance of people, represented exclusively by their names here, establishes an analogy to what happens in the train station. The meeting of people and their simultaneous "appearance" are arbitrary, both on the screen and in real life on site. In another showcase, Deeg displays the work "Was die Ohren sehen". Two screens show synchronously running videos dedicated to the immediate surroundings of the station and everyday routes outside the usual field of vision. With the help of a self-built camera construction, Deeg creates recordings that challenge the viewer's sense of orientation.
Jáno Möckel's works reflect the shortcomings of everyday life in a socio-economic context. In the showcases he displays the work "Pawnbroker's", in which he stages the shop window of a pawnshop. The objects advertised in such stores are not new goods, rather valuable commodities. They are only displayed in the shop window when a loan cannot be repaid and the pawned object is not sold at the subsequent auction. Behind the goods for sale lie personal stories and human predicaments. The question of value production or, in turn loss of value of such goods, are recurring themes in Möckel's work. In the exhibition he confronts the peculiar aesthetic of pawnshop windows somewhere between a jeweller and second-hand store with a diorama of gray flocked objects. Typically used to finish surfaces, flocking is used in jewellery boxes for display and storage. From a distance, however, the diorama appears artificially dusty. The alienated goods testify to neglect and loss of value, as well as refinement and value production.
A wooden construction is often installed on shop windows when a store with damaged glass windows is to be protected from theft or to provide a visual screen during reconstruction work. In Möckel's installation "Munthofstraat", however, the view inside is made possible through a peephole. Both the installation and the video work address the presentation and irritation of advertising content.
In the showcases, the works by Deeg and Möckel enter into a dialogue. Both implement, mirror and re-contextualize each others’ artistic materials and architectural elements. The concrete examination of the themes of decay and nostalgia becomes even more present in the pandemic. This becomes obvious when looking into the deserted showcases.
- kvhbf.de/?#/programm/florian-deeg-amp-jano-mockel-leerlauf-und-warten-auf-durchzug
- janomoeckel.com
- https://www.contemporaryartlibrary.org/project/florian-deeg-jano-mockel-at-kunstverein-harburger-bahnhof-19850 (Mehr Bilder)
- https://kunstvereine.de/de/jahresgabe/kontakte
- Jáno Möckel
- Marie Kuhn
- Tobias Peper
- Nadine Grünewald
- Maik Gräf (Fotos 1,4,5)